Ruth Priese
Ruth Priese     Körper- und systemisch orientierte Begleitung von kleinen und grossen Menschen

                                                        AUSGEWÄHLTE EIGENE TEXTE


Zu Corona - Berlin, den 01.06.2020



Sehr geehrter Herr Mosmann,

mit großem Interesse las ich Ihren Text „Corona-Virus: Menschheit am Scheideweg“ vom 11.Mai 2020 in „Themen der Zeit“, welchen ich kürzlich mit einer freundlichen Empfehlung zugeschickt bekam. (Es gibt derzeit ja so viele Verlautbarungen zur aktuellen Situation, dass ich im Wesentlichen nur diejenigen wirklich lese, die mir zuvor von befreundeten Menschen empfohlen wurden.)
Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Beschreibung der "Öffentlich rechtlichen Propagandatechniken" in Ihrem 4. Abschnitt, mündend in Ihrem Satz: "Mögliche wirtschaftliche Interessen des neuen ‚Partners‘ der Bundesregierung oder dessen Einfluss auf die WHO und die Interpretation des Corona-Virus sollte daher die erste Pflicht der Medien sein". Ihre erhellenden Beschreibungen des Einflusses privater Stiftungen und Konzerne (wie etwa der Bill & Melinda Gates Stiftung) und die große Gefahr eines Angriffes "auf das UN-System insgesamt", Ihre Kritik am zeitweisen Ausschluss vieler renommierter "Epidemiologen und unabhängiger Forschungsinstitute" sowie der Öffentlichkeit aus der politischen Entscheidungsfindung und Ihre Warnungen vor einer "'Partnerschaft'"zwischen WHO, Regierungen und Pharmakonzernen" erlebe ich als hilfreich für mein Verstehen dessen, was geschieht. Dass Herr Gates sich anmaßt, sich über eine mögliche Heranziehung des Militärs "zur Unterstützung des medizinischen Personals" öffentlich zu äußern - ohne ein demokratisches Mandat zu haben, hat mich geradezu erschreckt.
Allerdings kann ich Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie am Ende dieses 4. Abschnittes fragen: "... haben sich die Regierungen, Digitalindustrie, Pharmakonzerne und Medien gegen die Menschheit verschworen, um die Grundrechte aufzuheben, die zwischenmenschliche Begegnung als Keimzelle der Freiheit zu ersticken, das gesamte Leben in den kontrollierbaren 'Raum' hineinzuziehen und eine Zwangsimpfung der Weltbevölkerung mit einem noch unbekannten Impfstoff vorzubereiten?"  Auch, wenn Sie den Gedanken einer Verschwörung der Mächtigen nur als Frage in den öffentlichen Raum stellen, so befördern Sie damit doch eine zusätzliche Angst in uns LeserInnen, was m.E. in unserer Situation nicht sinnvoll, weil letztlich doch Spekulation ist.
Hingegen stimme ich mit Ihnen voll überein, dass die „zwischenmenschliche Begegnungnicht nur „Keimzelle der Freiheit“, vielmehr auch für unsere Menschwerdung und für unser Menschsein existentiell ist.
Wenn Sie unter "6.Umwertung der Werte“ von einer angeblich : „ ..... nachhaltigen Zerstörung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens durch die Corona-Verordnungen" schreiben, so trifft das im Blick auf die Wirtschaft sicherlich zu. Von einer Zerstörung des sozialen Lebens kann und sollte man verantwortlicher Weise im Zeitalter von Telefon und Internet aber m.E. nicht reden. Vielmehr sollten wir buchstabieren helfen, was die Unterschiede zwischen diesen derzeit untersagten Formen des zwischenmenschlichen Kontaktes und den weiterhin möglichen sind. Ich nehme z.B. Kontakte mit anderen Menschen auch in dieser Zeit der Einschränkungen körperlicher Nähe immer noch wahr als wertvolle Möglichkeiten oder Varianten sozialer Kontakte:
von Gedanken aneinander (einschließlich des Lesens von Worten oder Sätzen Anderer und des Erinnerns an sie mit Hilfe von Bildern) - ,
von Wünschen füreinander -,
von Schreiben aneinander -,
von Telefonieren miteinander -,
von Reden und einander Sehen beim Skypen -, 
von einander live Sehen im Abstand zueinander - und  schließlich
von dem physischen Kontakt mit möglicher körperlicher Berührung, die für beide Seiten stimmig ist.
In allen dieser Weisen des zwischenmenschlichen Kontaktes, die ja in der Mehrzahl auch in Corona-zeiten möglich sind, geht es darum, sich in den anderen Menschen so hineinzufühlen, dass ich ihn oder sie mit meinen Worten, Sätzen, Gedanken, Wünschen, Erinnerungen, Blicken - schließlich auch Berührungen nicht verletzte - im Sinne von Janusz Korczak:
Ihr sagt:

„Der Umgang mit Kindern ermüdet uns.“
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
„Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen.
Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen.“
Ihr irrt euch.
Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen.
Um nicht zu verletzen."

Die großen Gefahren gegenseitiger Verletzungen durch die neuen Möglichkeiten des reinen e-mail-Kontaktes beschreiben Sie ja sehr schön am Ende Ihres Abschnittes 9 (in meinem Ausdruck S. 13 unten) mit den Worten „Vor dem Bildschirm … ist jeder Mensch in Wahrheit allein mit sich. Ärger, Selbstliebe, Geltungssucht, Hass – diese Kräfte erfahren in der Isolation keine Korrektur durch die wirkliche Anwesenheit des Anderen.“ Diese Gefahren könnten m.E. ein großes Ausmaß an Gegengewicht erfahren, wenn unser Einfühlungsvermögen in unseren jeweiligen mail-Adressaten – schwerer noch, wenn wir mehrere Personen gleichzeitig anschreiben - kultiviert wäre, ein große gesellschaftlich vor uns liegende ethische Aufgabe!

Ihren Abschnitt "7. Das ewige Leben" halte ich für kaum erwähnenswert: Die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit setzt sich in b e r ü h r e n d e r und e i n d r ü c k licher Weise mit unserer Sterblichkeit auseinander. Für meine Wahrnehmung werden auch ein paar vermögende Herrschaften mit noch so hoch finanzierter „Unsterblichkeits-Forschung“ und mit noch so vielen Pillen ihren eigenen Tod nicht verhindern. Der Gedanke allein (zumal angesichts des Elendes in der Welt) ist für mich menschliche Anmaßung pur. Und dies sollte als solche m.E. auch benannt werden.
Vom „Ursprung der Intelligenz“ lese ich in Ihrem 8.Abschnitt leider wenig.
Auch kann ich in Ihrem 9. Abschnitt „Die Genese einer Ideologie“ nicht nachvollziehen, in welchem Sie die Befürchtung eines in den „neuen Biologismus“ abdriftenden Menschenbildes äußern. Vielleicht teile ich diese Angst nicht, weil ich keine Trennung zwischen unserem leiblichen und unserem psychisch-geistigen Menschsein wahrnehmen, erleben und denken kann. Die sehr ausgewählten, vergleichweise wenigen von den unendlich vielen Signalen unserer Sinne, unseres Körpers und unseres Nervensystems, die in unser Bewusstsein aufsteigen, prägen zwar unsere Wahrnehmung, unser Denken, unsere Sprache und unser Selbstbild. Aber die meist unbewussten Wahrnehmungen unserer Körper, die das wunderbare autonome Funktionieren dieses Kosmos Mensch ermöglichen (das Grummeln im Bauch z.B., die aufsteigende Hitze, die nestelnde Hand oder der wippend Fuß ----), widersprechen unserem Denken und Wollen oft. Vorstellungen, Projektionen, Bilder, Wünsche, Ängste - bis hin zu gewissen „Bedürfnissen“ - sind ja bekanntlich immer eine Mischung aus Bewusstem und Unbewusstem, - aus Körperreaktionen und Denken/Einordnen. Deshalb sind unser Denken und unsere Wahrnehmung ja auch ständiger Korrektur bedürftig.
Natürlich wird „Im Augenblick der Angst .. das Bewusstsein durch den eigenen Leib begrenzt, den es zu erhalten gilt“, wie sie schreiben. Ohne eine solche Überlebensstrategie unseres Nervensystems wäre die Menschheit vermutlich lange ausgestorben. Aber zu formulieren: „Die Seele zieht sich zusammen, verbeißt sich gewissermaßen in den Körper“, ist m.E. unnötig negativ ausgedrückt. Ich wünsche mir, ich könnte ich Ihre Meinung, dass „Video-Konferenzen .. Kompensations-Übungen“ seien, welche die „Konzentration auf den rein materiellen Aspekt der zwischenmenschlichen Begegnung verstärken“ vielleicht mit meinen oben aufgelisteten Varianten zwischenmenschlicher Kontakte und meiner Erwähnung der wunderbaren Wirkung unseres autonomen Nervensystems entkräften. Ich kann einfach nicht wahrnehmen, dass diese „Maßnahmen… eine Verengung des Bewusstseins auf den physisch-leiblichen Aspekt des Daseins bewirken“. Ich nehme das Gegenteil wahr: die Maßnahmen sensibilisieren uns für die Kostbarkeit leiblich-physisch stimmiger zwischenmenschlicher Kontakte und zeigen uns die Grenzen und Gefahren der anderen Kommunikationsformen auf.
Zu Ihrem Abschnitt „10.Der Widerstand“: Ihre Befürchtung, „ dass die volkspädagogischen Wirkungen der Corona-Verordnungen…. im Unterbewusstsein die weltanschauliche Grundlage für eine vollständige Umwertung der Werte“ bilden werden, ist m.E. eine Befürchtung, keine Tatsache ebenso wie Ihr Satz: „So hängt die Isolation der Menschen innerlich zusammen mit der Entstehung eines auf das materiell-körperliche reduzierten Gemeinschaftsempfindens und der sich darauf gründenden Moralbegriffe. Freiheit und Demokratie sind im System dieser Weltanschauung keine selbständigen Werte, sondern erhalten ihre Funktion durch dasselbe zugewiesen. So ist es möglich, dass niemand mehr gezwungen werden muss, sondern der mündige Bürger seine Freiheit selbst abschafft und sich das Status-Symbol des Untertanen, den Mundverschluss, zu Hause selbst näht“.
Und diese Befürchtung kann ich verstehen. Aber sie ist eben Ausdruck von Angst und keine Beschreibung von Tatsachen.
Wie schön, dass Sie zum Schluss die Kraft und das Wunder zwischenmenschlicher Beziehung erneut mit Worten beschreiben, mit denen ich mich voll identifizieren kann: „In der konkreten Begegnung von Mensch zu Mensch wird der Biologismus…. jedes Mal überwunden….. Die wirkliche Begegnung in Fleisch und Blut ist somit ein Paradox, welches die Anwesenden innerlich in Bewegung bringt und auf das Rätsel des menschlichen Wesens hinweist. “.
Diese Ihre Beschreibung erinnert mich an den von mir verehrten Philosophen Emmanuel Lévinas und seine Reflexion des menschlichen Antlitzes, u.a.“ Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt.“ (in: Ethik und Unendliches, dt. 1986, 3. Aufl. Passagen Verlag Ges.m.b.H. Wien S. 64)
Vielmehr entwickelt sich der Geist durch die konkret materielle Begegnung von Mensch zu Mensch … Das allgemeine Menschenwesen, das jeder von uns ist, realisiert sich erst in der Begegnung“ schreiben Sie unter Abschnitt 11 „Die Entscheidung“. Dem kann ich voll zustimmen, nicht jedoch, wenn Sie etwa später fortfahren: Das spezifisch Menschliche „bildet sich eben auch nicht, wenn sich Menschen nicht als materieller Körper gegenüberstehen, sondern z.B. per Video konferieren“.
Unbestritten: „der Wert der wirklichen Begegnung in Raum und Zeit“ ist höher, wirksamer, korrigierbarer und in vielen Situationen allen anderen Begegnungsweisen vorzuziehen. Letzteren aber als die große Gefahr darzustellen und nicht auf die Chancen und Gefahren unterschiedlicher, je der Situation angemessener Kommuniaktionsweisen hinzuweisen, hilft m.E. wenig. Immerhin ist ja die Luft global sauberer geworden, seit die Politikerinnen weniger fliegen. Die Ozeane ächzen derzeit nicht unter den Kreuzfahrschiffen, seit diese stilliegen, und auf den Straßen können wir manchmal die Vögel hören, weil viel weniger Autor fahren - – .
In dieser Krisenzeit spüren m.E. alle Menschen tagtäglich den Unterschied zwischen realen körperlichen Begegnungen und anderen Kommunikationsformen, ob wir sie „mündig „ nennen oder nicht.. Dazu muss ein „aufwachen“ m.E. nicht angemahnt werden.



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