Ruth Priese
Ruth Priese     Körper- und systemisch orientierte Begleitung von kleinen und grossen Menschen

                                                        AUSGEWÄHLTE EIGENE TEXTE


Kinder in einer missbrauchenden Gesellschaft


1.) Zum alltäglichen „Benutzen“ von anderen Menschen

Nicht nur über „ausgemachte“ Täter und Täterinnen sexuellen Mißbrauchs sowie über ihre Opfer sollten wir sprechen, auf welche oft mit moralischer Überhebung gezeigt wird. Wir sollten auch über die vielen Formen verdeckten Gebrauchens anderer Menschen und vor allem von Kindern nachdenken.Von körperlich-sexuellen und emotionalen Gewaltverbrechen an Kindern, Schutzbefohlenen und Abhängigen zu hören und zu lesen, ist schlimm genug.
Jedoch gibt es auch ein alltägliches Benutzen von Menschen und Benutzwerden durch Andere, welches nicht an die Öffentlichkeit kommt und den Beteiligten oft nicht bewusst ist. Dieses Geschehen möchte ich hier in den Mittelpunkt meiner Überlegung stellen. Ganz langsam, mehr und mehr rücken auch weniger sichtbare Verletzungen der Würde Anderer ins kollektive Bewusstsein und bieten eine Chance, das vielleicht noch größere gesellschaftliche Problem in den Blick zu bekommen:
Die Alltäglicheit der Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen.
Vielleicht könnte aus einer oft so unsäglich scheinheiligen Debatte über offengelegten sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein Nachdenken über den „gewöhnlichen“ Missbrauch werden.
Wir Heutigen z. B. haben uns in dieser Warengesellschaft weitgehend daran gewöhnt, von Werbefirmen und sogenannten Fachleuten, durch Bilder, Slogans und Klänge zum Kauf von Dingen überredet zu werden, die wir gar nicht brauchen, – zu Handlungen gebracht zu werden, die wir eigentlich nicht wollten. Wir lassen uns auf diese Weise nicht selten von einer Konzentration und Besinnung auf unsere wahren Bedürfnisse und dem Streben nach ihrer Erfüllung ablenken.

2.) Zum Übergehen von Wahrnehmungen, Impulsen und Bedürnissen
    
So – eingewöhnt in ein Benutzwerden – übergehen auch wir mehr oder weniger oft sowohl unsere eigenen Wahrnehmungen, Impulse und Bedürfnisse als auch die anderer, damit unserer und ihrer Einzigartigkeit und Würde – oft ohne es zu merken und zu wollen.
Um ein kleines Beispiel aus der schönen neuen Computerwelt zu nennen: Wir leiten manchmal sehr private e-mail-Briefe oder Adressen einfach weiter oder benutzen Bilder, ohne die Verfasserin oder den Verfasser bzw. die Dargestellten vorher um ihr Einverständnis gebeten zu haben. Dabei ist ja auch eine e-mail-Korrespondenz ein sehr fragiles und wertvolles Beziehungsgeschehen, das umso mehr Sorgfalt im Umgang miteinander erfordert, je technisch leichter eine Verbindung durch einen schnellen Mausklick geworden ist.
Auch durch die modernen „Kommunikationstechniken“ laufen wir also derzeit Gefahr, unmerklich den Schutz Anderer häufiger zu gefährden, als wir es uns eingestehen.

3.) Zum gewöhnlichen „Gebrauch“ von Kindern im Rahmen eines defizitären inneren Bildes vom Kind

Noch wichtiger aber scheint mir die Anerkennung der Tatsache, dass in unserer Kultur einer „schwarzen Pädagogik“ noch immer der alltägliche „Gebrauch“ von kleinen Kindern normal zu sein scheint. Das Verhältnis zwischen uns Erwachsenen und den Kindern ist noch immer weitgehend gekennzeichnet davon, dass den Kleinen nur aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer Abhängigkeit keine den Erwachsenen gleichwertige menschliche Würde und Empfindungsfähigkeit zugestanden wird und dass man ihnen oft wenig respektvoll begegnet1. Das innere, meist unbewusst wirksame Leitbild für unser Handeln und Verhalten gegenüber Kindern ist in unserer Gesellschaft noch immer weitgehend durch „Defizit- „ oder „Tabula-rasa-modelle“2 geprägt. D.h. wir begegnen oft Kindern wie unfertigen Menschen, die nicht verstehen oder „mitkriegen“, was ihnen geschieht und für die, was sie erleben, später keine Rolle spielen wird. Wenn wir aber Bilder vom Zustand ihres Gehirns ansehen – etwa in dem angegebenen Buch von Schumacher S.191 – sehen wir, wie viel Raum die mittleren Teile ihres Gehirns in diesem Stadium noch einnehmen und wie undifferenziert ihre Hirnrinde im Vergleich zu der von uns Erwachsenen ist. Aber es ist vermutlich genau umgekehrt: nach meiner Erfahrung verstehen sie Situationen und die Qualität von Beziehungen – auf eine intuitive Weise – viel genauer als wir. Ich vermute, ihr noch nicht ausgereiftes Großhirn ist dafür verantwortlich. Denn ihr bereits vorhandenes „Mittelhirn“ mit den emotionalen Hirnzentren3 scheinen sie sehr viel umfassender zu benutzen –, sie scheinen also intensiver zu fühlen als wir Erwachsenen, die wir viele unserer Wahrnehmungen mit unserem Denken filtern.
Dass alle unsere Erfahrungen in unserem „impliziten“ Gedächtnis gespeichert werden, welches nicht bewusst abrufbar ist4 und wesentlich unser späteres Erleben und Verhalten bestimmt, ist inzwischen wissenschaftlicher Konsens.
Wenn wir mit kleinen Kindern zusammen sind, merken wir sehr bald, wie genau sie auf unser respektvolles oder unser unsensibles Verhalten reagieren: Schon Säuglinge nehmen wahr, ob wir z.B. ihre Angst vor allem Fremden achten, ihnen etwa bei einer ersten Begegnung nicht schnell mit großer Nähe oder gar Berührung begegnen: Sie reagieren sehr bald mit Freundlichkeit, die ich als Dankbarkeit für diesen Respekt deute. Und sie zeigen uns diesen Dank dann aus völlig freier Entscheidung mit einem wunderschönen Lächeln, einer Geste oder mit freudigenTönen.
Missachten wir nicht oft ihre ungeheure Anmut, Kreativität, Spontaneität, Liebesfähigkeit, Direktheit, Neugier, ihre genauen Emotionen? Selbst das Fühlen wurde Kindern noch bis vor nicht langer Zeit abgesprochen: Säuglinge z. B. wurden noch vor wenigen Jahrzehnten ohne Narkose operiert. Körperliche Züchtigung wurde erst 1973 in der Bundesrepublik verboten.
Die Defizit-Leitbilder vom Kind haben sich einerseits zum Glück und andererseits zu unserem großen Erschrecken durch die Säuglings-, Bindungs- und Hirnforschung der letzten Jahrzehnte als völlig haltlos erwiesen. Viele wissen nun endlich, dass auch die Ungeborenen sensibelst wahrnehmen und dass alle ihre Erfahrungen, zuallererst diejenigen aus den prägeintensiven Zeiten der Schwangerschaft und der oft dramatischen Geburt gespeichert werden und die spätere Art ihres Wahrnehmens und Reagierens bestimmen.

4.)
Zu den Medien als Spiegel unserer Gesellschaft
Solche Erkenntnisse setzen sich aus verständlichen5 Gründen sehr langsam durch und werden auch von den Medien nicht sensibel vermittelt. Im Gegenteil: Kinder werden auch in ihnen oft skrupellos zu kommerziellen Zwecken benutzt: Vor nicht langer Zeit z.B. musste eine interessierte Öffentlichkeit erleben, dass Säuglinge und kleine Kinder von dem Fernsehsender RTL für eine Doku.reihe bedenkenlos und unter pseudo-pädagogischer Betreuung von ihren Bindungspersonen getrennt und jeweils für mehrere Tage und Nächte fremden jugendlichen „Probeeltern“ ausgeliefert worden waren. Die Ausstrahlung der Reihe konnte selbst von einem Heer Protestierender gerichtlich nicht verhindert werden. Die geltenden Bestimmungen zur Medienfreiheit in Deutschland erlaubten dem angerufenen Richter keine Verurteilung des Senders wegen Kindesmissbrauch!
Körperliche und emotionale Übergriffe auf kleine Kinder gehören fast zum gewohnten, unreflektierten Alltag in unserer Öffentlichkeit. Wie oft streicht z. B. ein älterer Mensch einem ihm fremden Baby oder Kleinkind einfach über den Kopf oder schaut es durchdringend an, obwohl das Kind mit einem Stirnrunzeln, heruntergezogenen Mundwinkeln oder dem Abwenden seines Kopfes oder Blickes deutlich signalisiert, dass es dies nicht will! Die Bedürfnisse der Erwachsenen scheinen allerorts wichtiger als die der Kinder!! Machtausübung ihnen gegenüber gilt bei uns als normal.
Ist dies ein moralischer Verfall im Vergleich mit vielen alten Kulturen der Erde? Wenn wir sensibler wären für die nonverbalen Signale auch größerer Kinder und wenn ihre Körpersprache gesellschaftlich geschützt und allgemein respektiert würde, dann würden gesunde Erwachsene und PädagogInnen Kinder vielleicht sorgfältiger vor kranken Pädophilen schützen können. Dann würden vielleicht weniger junge Menschen durch sexuelle Gewalt brutal zerstört und wären nicht lebenslang traumatisiert. Aber die Eindeutigkeit der kindlichen Körpersprache zu lesen haben wir alle wenig gelernt. Nur so kann ich mir erklären, dass z. B. öffentliche Kinos mit Familienvorstellungen werben, in denen auch die Kleinen ungefragt dem Flimmern über Stunden ausgesetzt werden. Ihre Mütter können mit der Ausdrucksprache ihrer Kinder offenbar so wenig anfangen, dass sie sich mit dem Kind „allein“ einsam fühlen. Junge Väter oder Mütter touren manchmal mit ihren Babys tagtäglich in eine andere Einrichtung ohne Rücksicht darauf, ob die vielen verschiedenen Eindrücke für das Kind zu viel werden könnten. Sie nehmen die Folgen für ihre Kinder offensichtlich nicht wahr. Deshalb will ich ihnen auch keinen Vorwurf machen. Ich kann es nur betrauern. Aber sie brauchen das Gespräch mit anderen so dringlich wie das tägliche Brot.
Warum fällt uns angesichts von Kinderpornographie im Internet nichts anderes ein als ein – sicherlich angebrachtes – Verbot/Löschen oder Sperren der Seiten? Warum sprechen wir nicht viel öfter miteinander z.B. auch über unsere Begeisterung für die Anmut der Kinder? Das Aussprechen unserer Empfindungen, unseres Bewunderns und unserer Freude über die Kinder wäre ja zugleich ein Teilen mit anderen lebendigen Menschen, ein Mit-teilen, Kommunikation – und so ein wirksamer Schutz vor unseren – vielleicht ebenso – zu Übergriffen neigenden Impulsen. Die angesehenen Pädagogen und Geistlichen, von deren Gewaltverbrechen an Kindern wir immer wieder erfahren müssen und mußten, haben deutlich mit zu wenigen Anderen über ihre Neigungen und Bedürfnisse gesprochen.
Die Übergänge von strafbaren Handlungen zu dem allgemein akzeptierten Gebrauch von Kindern und (oft Nackt-) Fotos in Werbung und Illustrierten sind auch hier fließend. Vor Kurzem lief in Berlin z.B. ein „Babycasting“: Familien wurden von Fotogeschäften gelockt, ihre Kleinen fotografieren zu lassen – ohne schützende Bezugsperson in fremder Umgebung drapiert –, um die „12 niedlichsten Babys Berlins“ zu ermitteln. Das dafür werbende, gruselige Foto zeigte sehr deutlich, wie schrecklich es den Babys dabei ergeht. Ein Rabatt von einem Gratisfoto sollte die Eltern zur Teilnahme an einem solchen Wettbewerb überreden. RTV im Verbund mit „Optovit“ (dem Vertrieb eines Vitamin E-Präparats) rief einen Wettbewerb um das „süßeste Enkelkind“ in Deutschland aus – !! Niemandem schien es zu beunruhigen, dass auf diese Weise all die vielen Familien, deren Kinder nicht in die Reihe der „Sieger“ aufgenommen werden, auf diese Weise in ihren Gefühlen ihrem Kind gegenüber beeinträchtigt werden. Denn die „Natur“ hat es bekanntermaßen so eingerichtet, dass a l l e Eltern und Großeltern ihre Lieblinge als die Niedlichsten erleben. Wieder sind wirtschaftliche Interessen wichtiger als der Respekt vor der natürlichen Begeisterung junger Eltern für ihre Kinder, die ja eine naturgegebene Schutzfunktion hat.
Wie oft müssen wir in der Zeitung von Beschwerden gegen Kinderlärm lesen! Viele junge Eltern lernen seit einiger Zeit – endlich bzw. erneut –, dass Weinen das Hauptverständigungsmittel von Babys ist. Sie üben sich, den Äußerungen ihrer Kindern sensibel zuzuhören, ja, dessen Art und Weise zu verstehen und ihre Kinder besser zu trösten. Aber wenn sie dies dann auch in der Öffentlichkeit tun, werden sie regelmäßig angefeindet und beschuldigt, schlechte Eltern zu sein. Man erwartet von ihnen, dass sie das Babyweinen, die Ausdrucksform der Kleinen durch einen Schnuller unterbinden, damit die Erwachsenen ihre Ruhe haben. Nach den Ursachen der Babytränen und nach möglichen Folgen ihrer Unterdrückung wird im öffentlichen Raum bisher kaum einmal gefragt.
Es bleibt die n o t - w e n d e n d e  g e s e l l s c h a f t l i c h e  N o r m : „Hände weg, wenn das Kind es nicht will!“ Und: das Kind zeigt, was es will, wir müssen nur genau hinsehen.

5.) Zum Einüben ins Aussprechen unserer Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse

Um diese Norm einhalten zu können, sollten wir uns auch unsere eigene emotionale Bedürftigkeit bewusst machen, darüber viel mit anderen Erwachsenen sprechen und uns unsere Bedürfnisse so gut wie möglich selbst erfüllen. Denn viele von uns sind in ihrer Kindheit emotional hungrig geblieben.
Deshalb ist es so naheliegend, dass wir uns an den offenen und freigebigen Gefühlen der Kinder laben. Ja, wir dürfen dies auch mit unserem ganzem Herzen tun, wenn wir die Grenzen zum Mißbrauch einhalten.
M.E. wird dies dort leichter fallen, wo wir ein Bewusstsein von emotionalen der Kompetenz der Kinder bekommen. Heilige Räume und Personen wurden zu allen Zeiten und in allen menschlichen Kulturen mit Respekt und dem Einhalten eines Abstandes geachtet. Könnten wir unseren Kindern mit einem solchen Respekt begegnen, dass wir den Abstand zu ihnen so sorgsam einhalten, wie sie es uns jeweils zeigen und lehren?
Das Bedürfnis nach Verstanden- und Geachtetwerden unserer Individualität ist bekanntlich eines der menschlichen Grundbedürfnisse vom Beginn des Lebens an. Wir alle bleiben uns selbst und einander die Erfüllung dieses Bedürfnisses oft schuldig, nicht nur Pädophilen in Schulen, Internaten und Heimen. Dennoch wird zu Recht das eine strafrechtlich relevant und das andere nicht –.
Ich meine aber, eine Debatte über Menschen missbrauchende „Selbstverständlichkeiten“ in Gesellschaft und Öffentlichkeit, besonders über missbrauchende Gewohnheiten gegenüber den Schutzbefohlenen generell könnte das spezifische Gespräch über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch pädagogische und kirchliche Würdenträger ein wenig glaubwürdiger machen.
Vielleicht könnte eine größere Ehrlichkeit in dieser Debatte dann u.a. auch die Front notorischer Abwehr eines inneren Zusammenhanges zwischen dem von der katholischen Kirche geforderten Zölibat und sexuellem Missbrauch zum Bröckeln bringen. Die Bischöfin Maria Jepsen ermutigte ja einst zu einer Ausweitung des Gesprächs auch auf die generelle Abwertung von Körperlichem in der christlichen Werte-Tradition, indem sie formulierte:
„Wir haben die Schönheit der Sexualität nicht gelernt“.
Wäre auf dem Hintergrund dieses öffentlichen Eingeständnisses dann nicht auch darüber nachzudenken, ob die Forderung der katholischen Kirche nach Ehelosigkeit ihrer Diener ebenso wie das Postulat einer moralischen Höherwertigkeit von sexueller Enthaltsamkeit gegenüber sexueller Lust nicht ebenfalls eine Form der Missachtung ist – in gewisser Weise also auch des Missbrauchs der vom Schöpfer gegebenen wunderbaren menschlichen Körperlichkeit?
Auch das Fehlen einer Tradition grundlegender philosophischer Reflexion der zwischenmenschlichen Beziehungen, speziell der Beziehungen zwischen ungleich starken Menschen scheint mir zu der gegenwärtigen Situation mit beigetragen zu haben. Wenn ich es richtig sehe, hat sich die „abendländische“ Philosophie wesentlich mit den Individuen, nicht mit ihren Beziehungen beschäftigt.

im Sommer 2018

1
Die Folgen aus den Zeiten, als wir selbst so klein waren, sitzen in sehr vielen von uns tief und zehren an unserem Selbstwertgefühl
2
  H.-D. Schmidt „neue deutsche literatur“ 10/1982
3
  Vgl. z.B. G.-H. Schumacher (1979 4. Aufl.): Embryonale Entwicklung des Menschen Vlg. Volk und Welt Berlin; und u.a. www. Das Gehirn in 3D
4 Babette Rotschild ( ): Der Körper erinnert sich.
5
Verständlich, weil jedes Ernstnehmen dieser Zusammenhänge uns – bewusst oder unbewusst – mit unseren eigenen frühen Erfahrungen konfrontiert, die ja oft extrem schmerzlich sind.



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